Redebeitrag des Abgeordneten Valentin Lippmann (BÜNDNISGRÜNE) zur Fachregierungserklärung zum Thema: „Kommune neu denken: Mehr Selbstverwaltung, weniger Staat.“
85. Sitzung des 7. Sächsischen Landtags, Mittwoch 20.03.2024, TOP 4
– Es gilt das gesprochene Wort –
Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
sind Kommunen eigentlich Staat? Eine durchaus spannende Frage, die uns der Innenminister heute mit seiner Fachregierungserklärung mit auf dem Weg gegeben hat und die gar nicht so einfach zu beantworten ist.
Die Antwort auf diese Frage könnte zwar einige verunsichern, ist aber vor allem vom Standpunkt der befragten abhängig. Verfassungstheoretisch und verfassungspraktisch scheint die Frage zunächst eindeutig zu beantworten, sie lautet eher: nein.
Fragt man die Bürgerinnen und Bürgern, ist die klare Antwort wahrscheinlich: ja. Denn nichts ist bekanntlich ein gravierenderer staatlicher Grundrechtseingriff als der gemeindliche Vollzugsdienst, der einen für das Falschparken belangt.
Fragt man den Innenminister, ist die Antwort eine Fachregierungserklärung, an deren Ende ich nicht so richtig weiß, ob der Staatsminister des Innern nun eine Art Anti-Staatsminister ist oder wir auf dem besten Weg zu einer Art kommunalen Nachtwächterstaat sind.
Ich möchte an dieser Stelle lieber keine staatstheoretische Debatte darüber anfangen, inwieweit die Kommunen selbst nicht auch Teil des Staates sind, sondern in dieser Aussprache zur Regierungserklärung lieber auf zwei Kernfragen eingehen. Wollen die Kommunen wirklich weniger Staat und wollen wir als Land wirklich weniger Staat für die Kommunen?
Ich nehme die Pointe gerne vorweg: In beiden Fällen lautet unsere Antwort besser nein. Indes lautet die Antwort auf die Frage, ob es mehr Selbstverwaltung braucht, definitiv ja – bloß vielleicht anders als es die Schwerpunkte des geschätzten Herrn Innenminister erwarten lassen. Es braucht nicht mehr Selbstverwaltung, sondern auch und gerade mehr Selbstbestimmung.
Zunächst lohnt sich aber ein Blick, ob die Kommunen selbst wirklich weniger Staat wollen sollten. Diese Forderung ist nicht neu, das alte Lied von der Gängelung der Kommunen und fehlender Freiheit, gerade in finanzieller Hinsicht, wird gerne gesungen. Und auch wenn nicht jeder Vers hierbei falsch ist, so ist die Grundmelodie dieses Liedes aus meiner Sicht falsch.
Auf der Mitgliederversammlung des Sächsischen Städte- und Gemeindetages Ende Juni vergangenen Jahres sprach der Oberbürgermeister von Radebeul, Bert Wendsche, vom Wunsch nach einem Kommunalfreiheitsgesetz. Er konstatierte, es brauche kein – ich zitiere – „viertes oder gar fünftes Demokratieförderprogramm“, sondern den „nachhaltigen Demokratiequell gelebter und vor Ort kraftvoll mit Leben erfüllter kommunaler Selbstverwaltung“. Und lamentierte im gleichen Atemzug über den fehlenden öffentlichen Nahverkehr. Welch Ironie, verehrte Kolleginnen und Kollegen. Das wäre nun wahrlich Aufgabe der kommunalen Selbstverwaltung.
Es zeigt sich: Es ist Inbegriff des dumpf-libertären Inferenzschlusses, dass weniger Staat mehr Freiheit für Kommunen bedeute, ist die kommunale Finanzausstattung und die Forderung nach weniger Förderprogrammen und mehr Direktausschüttungen an die Kommunen. Was im ersten Moment ziemlich logisch klingt, offenbart sich im nächsten als Hypothek gerade für kleinere Kommunen.
Bedenken Sie Folgendes: Ein Kilometer Straße kostet für eine Mittelstadt genauso viel wie für eine Kleinststadt. Es macht einen Unterschied, ob Sie bei der Umschichtung der Straßenbauförderung in das FAG ein paar tausend Euro mehr pro Jahr bekommen oder eine 50%-Förderung durch den Freistaat. Oder anders formuliert: Wie lange wollen Sie eine Kleinstkommune sparen lassen, bis sie ausreichend Geld hat, ohne Fördermittel eine solche Straße zu bauen?
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
es ist also schon zu bezweifeln, ob die Kommunen am Ende wirklich so viel weniger Staat wollen, wie der Innenminister und die CDU insinuieren. Was die Kommunen brauchen, ist nicht ein allgemeines Beschwören des schwachen Staates, sondern konkrete Verbesserungen. Das gilt vor allem für Förderverfahren und Fördervorschriften.
Wir BÜNDNISGRÜNE wissen, dass hier inzwischen ein Dschungel an Vorschriften besteht, die zu durchblicken weder in kleinen Gemeinden noch Vereinen immer gelingt. Deswegen wollen wir eine Reform des Förderverfahrens. Hin zu mehr Übersichtlichkeit und vereinheitlichten Fördervoraussetzungen. Hin zu Langfristigkeit und Planbarkeit. Hin zum Bürokratieabbau.
Genauso stehen wir BÜNDNISGRÜNE seit Jahren für eine generelle Verbesserung der Finanzausstattung der Kommunen – konkreter an Bedarfen orientiert unter stärkerer Berücksichtigung der Besonderheiten verschiedener Kommunen und unter Beachtung der aktuellen und zukünftigen Herausforderungen. Eine solche Reform des Kommunalen Finanzausgleichs ist eine Mammutaufgabe, aber die Arbeit würde lohnen und weit mehr bringen als allgemeine Postulate zum Staatsabbau.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
zum zweiten müssen wir uns aber die Frage stellen, ob wir als Freistaat wirklich wollen, dass wir den Kommunen weniger Staat versprechen. Denn schon jetzt gibt es immer wieder fundamentale Kritik an der konkreten Ausgestaltung von Aufgaben, die im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung ausgeführt werden.
Denn die Aufgabenerfüllung bei weisungsfreien Pflichtaufgaben erfolgt ausgesprochen unterschiedlich. Und das kann zur Gefahr für die Sicherheit der Menschen vor Ort werden. Ich möchte hier nur erneut auf die Große Anfrage der Linken zu den Feuerwehren im Freistaat verweisen – und die 42 mal, die das Innenministerium in der Antwort konstatierte, es habe dazu keine Informationen. Kommunale Selbstverwaltung.
Das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist nicht so witzig, wie es klingt. Es ist gefährlich. Und dieser Befund setzt sich fort: Während die Waffenbehörde im Vogtlandkreis, nämlich der Landkreis, 154 Kontrollen der Aufbewahrung von Schusswaffen 2023 durchgeführt hat, erfolgten in Mittelsachsen in der gleichen Zeit ganze zwei Kontrollen.
Solche Divergenzen können wir uns schlicht nicht leisten. Die 2008 durchgeführte Funktionalreform hatte das Ziel, durch Dezentralisierung den ländlichen Raum zu stärken. Über 15 Jahre später müssen wir feststellen, dass das so pauschal nicht funktioniert und langsam wird es auch gefährlich.
Unsere freiheitliche Demokratie wird so stark bedroht wie noch nie in ihrer jüngeren Geschichte. Und alle staatlichen Institutionen haben die unverbrüchliche Verantwortung, unsere Verfassungsordnung zu schützen.
Denn die Instrumente der wehrhaften Demokratie sind rechtliche und liegen demzufolge in staatlicher Hand – und auch ganz wesentlich in der der Kommunen. Schutzlücken, wie sie durch die Heterogenität der Aufgabenerfüllung allenthalben entstehen, sind nicht einfach lästig. Sie sind gefährlich. Für die Einzelnen, aber auch für die Demokratie an sich.
Denn Rechtsextremist*innen und Verfassungsfeinde suchen Rückzugsräume, um ihre Netzwerke zu stärken. Und sie finden sie an denjenigen Orten, an denen sich der Staat zurückgezogen hat. An denen die Versammlungsbehörden nicht mehr eingreifen, wenn Rechtsextreme uniformiert durch die Straßen laufen. An denen die Gemeinde nur noch fassungslos zusieht, wenn wieder eine Immobilie gekauft wird – falls sie es überhaupt mitbekommt. Und an denen die Waffenbehörde lieber gar nicht erst gucken kommt. Wollen wir das wirklich?
Wir brauchen den Staat, um eine fundamentale Freiheit zu garantieren: Die Freiheit vor Furcht. Erst wenn diese gewährleistet ist, können sich Freiheit und Demokratie entfalten. Diese elementare Verantwortung trifft auch die Kommunen und Landkreise. Dabei leiden sie oft unter wenig Ressourcen, Personalmangel und einer Vielzahl verschiedener Aufgaben. Deswegen wollen wir BÜNDNISGRÜNEN eine neue Funktionalreform mit Augenmaß. Und eine Hochzonung einiger Aufgaben, insbesondere im Waffen- aber auch im Gewerbe und Vereinsrecht.
Somit darf ich für uns BÜNDNISGRÜNE konstatieren: Weder die Kommunen noch wir als Freistaat sollten ein Interesse an weniger Staat für die Kommunen haben. Es wäre ein Schuss ins Knie für die Kommunen und eine massive Hypothek für die gleichmäßige Erfüllung all jener Aufgaben im Freistaat, bei denen die Bürgerinnen und Bürger zurecht nicht danach fragen, wer dafür zuständig ist.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
in unseren Kommunen braucht es definitiv mehr Selbstbestimmung – vor allem aber für die Bürgerinnen und Bürger und die Stadt- und Gemeinderäte sowie die Kreistage.
Demokratie braucht engagierte Demokrat*innen – das gilt heute mehr denn je. Denn sie, jeder Einzelne von ihnen, gestalten unser Zusammenleben. Und deswegen ist Mitbestimmung und Teilhabe an der politischen Willensbildung Wesensmerkmal eines demokratischen Systems.
Wir BÜNDNISGRÜNE kämpfen seit Jahren für eine starke kommunale Demokratie. Wir sind es, die Ortschaftsverfassungen auch in nicht-eingemeindeten Gebieten möglich machen wollen. Wir sind es, die Stadtbezirksverfassungen nicht auf Kreisfreie Städte beschränken wollen. Und damit wollen wir BÜNDNISGRÜNE das Mitspracherecht der unmittelbar vor Ort Betroffenen stärken.
Wir haben in dieser Koalition die Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger gestärkt und auch dafür gesorgt, dass die kommunalen Mandatsträger mehr Rechte bei der Ausübung ihrer Kontrollaufgaben bekommen. Wir haben Sachsens Kommunen demokratischer gemacht und ihre Selbstverwaltung durch die Aktivierung der Bürgerschaft gestärkt.
Die Kommune ist der Ort, in dem die Dinge des täglichen Bedarfs, gemeinsame Aufgaben und Herausforderungen kollektiv gemeistert werden können. Und auch dieses Gefühl kann politische Selbstwirksamkeit vermitteln, die so wichtig ist in Zeiten, in denen globale Krisen leicht Ohnmachtsgefühle erzeugen. Nur: Dann muss die Bevölkerung auch gehört werden.
Deswegen wollen wir BÜNDNISGRÜNE Bürgerentscheide auch in Stadtbezirken ermöglichen, nicht nur in Ortschaften. Deswegen wollen wir eine Vereinheitlichung von Mitwirkungsrechten. Es darf in Sachsen keine Bürgerinnen und Bürger erster Klasse und zweiter Klasse geben. Beteiligungsrechte und Entscheidungsrechte müssen überall gleich sein und überall wirksam sein. Dafür werden wir als BÜNDNISGRÜNE weiter entscheiden eintreten.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
die kommunale Selbstverwaltung bewegt sich immer innerhalb eines gewissen Spannungsfelds. Bürgerschaftliche Beteiligung, kommunale Solidargemeinschaft und leistungsfähige Verwaltung können sich durchaus widersprechen. Wir wollen kommunale Freiheit – durch die Freiheit zur Mitgestaltung der Einwohner*innen vor Ort. Nicht die Freiheit einzelner Bürgermeister*innen oder Landrät*innen, zu schalten und zu walten, wie sie wollen.
Wir stehen für eine starke lokale Demokratie und werden dafür auch weiter streiten. Denn unser Grundsatz lautet: Nicht zuerst weniger Staat, sondern zuerst mehr Demokratie.
Vielen Dank.