Redebeitrag des Abgeordneten Valentin Lippmann zur Debatte um den Abschlussbericht zum NSU-Untersuchungsausschuss
95. Sitzung des 6. Sächsischen Landtags, 4. Juli, TOP 4
– Es gilt das gesprochene Wort –
Sehr geehrter Herr Präsident,
werte Kolleginnen und Kollegen,
wir diskutieren heute hier nicht über Ergebnisse irgendeines Untersuchungsausschusses.
Es geht nicht darum, die Frage zu beantworten, ob eine Regierung im Umgang mit Geld oder bei der Ausübung von Amtsgeschäften schwere Fehler gemacht hat, was schlimm genug wäre.
Es geht darum, zu klären, warum über ein Jahrzehnt in Deutschland – vor den Augen der Sicherheitsbehörden – ein Terrornetzwerk insgesamt zehn Menschen ermorden konnte, ohne, dass dies gestoppt wurde.
Das sind wir den Opfern, ihren Angehörigen und auch allen Menschen in diesem Land schuldig, die weiterhin – und gerade in Anbetracht der gesellschaftlichen Entwicklungen und der jüngsten rechtsextremen Gewalttaten – berechtigte Fragen haben.
Es bleibt nach diesem, von LINKEN und GRÜNEN eingesetzten – zweiten Untersuchungsausschuss zum NSU in Sachsen zu konstatieren: Auch – nunmehr in Summe sechs Jahren – nach der Aufklärung, bleibt das Gefühl zurück, der Wahrheit ein gutes Stück näher gekommen zu sein, aber noch immer nicht alles zweifelsfrei geklärt haben zu können.
Und dennoch zeichnet sich nach 43 Sitzungen, 70 Zeuginnen und Zeugen sowie 1.572 Aktenordner und einer im Großen und Ganzen sehr sachliche Arbeit des Ausschusses ein Bild, warum der NSU gerade in Sachsen seinen Rückzugsraum hatte und warum die Behörden es hier nicht vermochten, diesen zu enttarnen.
Wir GRÜNEN bedauern zutiefst, dass es nicht gelungen ist, die abscheulichen Taten des NSU zu unterbinden – es wäre möglich gewesen. Das ist auch die Feststellung, die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE in einem umfassenden abweichenden Votum zum Abschlussbericht treffen, der auch die Ergebnisse des ersten NSU-Untersuchungsausschusses mit berücksichtigt. Auf die wichtigsten Punkte will ich hier kurz eingehen:
Erstens: Es gab keine eigenen Ermittlungen sächsischer Behörden.
Sächsische Behörden hätten aufgrund eigener Zuständigkeit nach dem Trio fahnden müssen. Die Chance, die gesuchten Drei zu finden und damit möglicherweise die Mordserie zu verhindern, wäre deutlich höher gewesen, wenn dies erfolgt wäre.
Die Polizei Sachsen hat sich – von den Ermittlungen zu den Raubüberfällen und von wenigen Beispielen von Eigeninitiative einmal abgesehen – nicht proaktiv an der Suche nach dem Trio aus Jena in Sachsen beteiligt, obwohl mehr als ein Anhaltspunkt vorlag, dass sich die gesuchten Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe in Sachsen aufhielten. Die einzelnen Ermittlungsunterstützungsleistungen, die aus Thüringen bis zum Jahr 2003 sporadisch angefordert wurden, wurden ohne nennenswerten Erfolg für das Auffinden des Trios von sächsischen Behörden abgearbeitet.
Gleiches gilt für das Landesamt für Verfassungsschutz, das die Bitte der Thüringer, die Suche nach dem Trio in eigener Zuständigkeit zu übernehmen, abgelehnt hat. Ihm lag überdies noch die Erkenntnis vor, dass das Trio auf der Suche nach Waffen sei und einen >>weiteren Überfall<< plane. Dieses Wissen um die Gefährlichkeit der Gesuchten wurde aus fadenscheinigen Gründen nicht an die sächsische Polizei weitergegeben, gleichwohl aber für die Beantragung von G10-Maßnahmen verwendet. Selbst verantwortliche Mitarbeiter des LfV, die im Jahr 2000 Observationen unter dem Namen „Terzett“ eingeleitet hatten, fehlten wesentliche Erkenntnisse aus den frühen „Piatto-Hinweisen“.
Zweitens: Rechtsextremer Terror wurde in Sachsen für undenkbar gehalten.
Es zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Untersuchung, dass Sachsen offenbar der perfekte Ort zum Untertauchen für eine rechtsterroristische Gruppierung war, da es für alle in Sachsen agierenden Behörden, Amtsträger/innen oder kommunalen Vertreter/innen undenkbar war, dass rechtsterroristische Mörder/innen Sachsen als Ruhe- und Rückzugsort nutzen.
Hätte man sich vorstellen können, dass untergetauchte Neonazis morden, ihren Lebensunterhalt mit Banküberfällen bestreiten und beim Untertauchen auf eine dichtes Netzwerk an Unterstützer/innen zurückgreifen können, wären die sporadischen Ermittlungen in Sachsen möglicherweise anders verlaufen.
Dass dieses Ausmaß an rechtsterroristischer Bestrebungen auch bei Polizei, Verfassungsschutz oder in der Politik für undenkbar gehalten wurde, findet seine Grundlagen darin, dass Rechtsextremismus in Sachsen über Jahre unterschätzt oder gar ignoriert wurde, zumindest aber bagatellisiert wurde.
Beim LfV war man ab dem Jahr 2000 der Auffassung, Rechtsterrorismus existiere nicht. Bei der Polizei fehlte – spätestens mit der personellen „Amputation“ der SOKO Rex ab 1998 – der Blick für größere Zusammenhänge. So wurden bei laufenden Ermittlungen etwa im Blood & Honour-Umfeld die Suche nach dem Trio nicht berücksichtigt.
Erschreckend war zudem die bei der Vernehmung des Bürgermeisters von Johanngeorgenstadt zutage tretende Ignoranz gegenüber den gefestigten lokalen rechtsextremen Strukturen. Die Gefährlichkeit rechtsextremer Strukturen in Sachsen wurde über Jahre auf nahezu allen staatlichen und kommunalen Ebenen unterschätzt. An diesem Befund dürfte sich leider bis heute nicht viel geändert haben.
Drittens: Auch das behördliches Handeln nach der Selbstenttarnung des NSU war von unbeteiligter Nachlässigkeit geprägt. Die Grenze von dolus eventualis und grober Fahrlässigkeit war dabei fließend.
Ein Schwerpunkt der GRÜNEN im Untersuchungsausschuss lag auf dem Umgang mit den Akten mit Bezug zum NSU und deren möglicher Vernichtung nach 2011. Eine gezielte Aktenvernichtung konnte der Untersuchungsausschuss zwar nicht feststellen, es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass bis zur Anordnung der Vernichtungsverbote ab Mitte 2012 auch Akten mit NSU-Bezug vernichtet wurden. Jedenfalls löschte das Landesamt noch in den ersten sieben Monaten munter weiter. Ob darunter Akten und Daten mit NSU-Bezug waren, konnte durch den Untersuchungsausschuss nicht mehr festgestellt werden.
Wir mussten zudem feststellen, dass teilweise Lagefilme der Polizei in Zwickau offensichtlich in Unkenntnis des Vernichtungsstopps nach zwei Jahren regulär vernichtet wurde. Hinzu kam, dass das Löschmoratorium des Justizministeriums nur die Phänomenbereiche „rechts“ und „ausländerfeindlich“ umfasste, nicht jedoch Banküberfälle, so dass auch im Bereich der Strafverfolgung nicht auszuschließen ist, dass Akten oder Daten über die regulären Löschzyklen gelöscht wurden.
Zudem hatten Zeugen, die von der Staatsregierung als Verantwortliche für die Umsetzung des Löschmoratoriums benannt wurden, entweder keine Kenntnis oder meinten, es beträfe ihren Bereich nicht.
Aus diesen Feststellungen ergibt sich für uns ein Mosaik des Scheiterns:
Es war die organisierte Verantwortungslosigkeit, die fehlende Kompetenz, die Unbeständigkeit und das Desinteresse beim Landesamt für Verfassungsschutz. Trotz konkreter Hinweise zur Gefährlichkeit des NSU-Trios und begangener Straftaten verharrte es in seiner geheimdienstlichen Kleinstaaterei und blieb auf seinem Wissen zum fragwürdigen Schutz fragwürdiger Quellen sitzen.
Es waren sächsische Polizeibedienstete die viel zu sehr Dienst nach Vorschrift machten und nicht in der Lage waren, über den jeweiligen Tellerrand ihrer Ermittlungen zu blicken und in größeren Zusammenhängen zu denken.
Und es war die Ignoranz und ein falsches Verständnis gegenüber Rechtsextremen in Sachsen die eine Situation geschaffen haben, dass rechtsterroristische Mörderinnen und Mörder Sachsen als Rückzugs- und Ruheraum mit einem dichten Unterstützernetzwerk nutzten.
Sehr geehrter Herr Präsident,
werte Kolleginnen und Kollegen,
es gilt spätestens jetzt aus diesem Versagen die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Nach der Enttarnung des NSU gaben nahezu alle politisch Verantwortlichen das Versprechen ab, dass sich so etwas nie wiederholen dürfe. Dieses Versprechen hat Sachsen bereits in den letzten in den letzten fünf Jahren nicht erfüllen können.
Wir haben erneut erleben müssen, wie mit der Gruppe Freital unter den Augen der Behörden und ähnlichem Versagen wie beim NSU, in Sachsen eine neue Terrorgruppe entstand. Es war schlichtes Glück, dass es dieser Gruppe nicht gelang, Menschen zu töten und wir es mit denselben Ausmaßen des NSU zu tun gehabt hätten.
Wir haben erneut erleben müssen, dass rechtsextreme Gewalt bagatellisiert oder ignoriert wurde – teils auch von der Staatsregierung. Wer nach wie vor nicht sehen will, wie stark vernetzt die rechte Szene in Sachsen ist und wie gut verankert, riskiert neue Rückzugsräume für jene rechtsextremen Netzwerke, die man vorgibt, zerschlagen zu wollen, zu schaffen.
Wir haben erneut erleben müssen, wie ausgerechnet der Verfassungsschutz zu einer der größten Hypotheken im Kampf gegen den Rechtsextremismus geworden ist. Wer weiterhin dann stets überrascht ist, wenn was passiert ist und kaum luzide Kenntnisse über die rechtsextremen Strukturen in Sachsen hat oder selbst vorhandenes Wissen nicht weitergibt, hat seine Daseinsberechtigung verloren.
Sehr geehrter Herr Präsident,
werte Kolleginnen und Kollegen,
Die einsetzenden Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE haben im Ergebnis der Untersuchung 46 Empfehlungen formuliert, die sich für die Politik und die Gesellschaft auf ein paar grundsätzliche Merksätze zusammenfassen lassen können:
Schaut hin, widersprecht und stellt Euch deutlich jeder Form von Rassismus, Diskriminierung und Menschenverachtung entgegen. Dies gilt nicht nur in den Parlamenten. Das gilt auch auf den Straßen, in Behörden, an den Stammtischen und in den Familien. Denn aus Worten des Hasses folgen Taten, die Menschen das Leben kosten und unsere demokratische Gesellschaft zerstören.
Der heutige Bericht ist keine Schlussstrich unter der Aufarbeitung. Gerade zum Unterstützernetzwerk des NSU in Sachsen bestehen noch weiße Flecken, die wir mit dem Mittel des Untersuchungsausschusses nicht mehr klären können. Hier hoffen wir, dass die noch laufenden Ermittlungen des Generalbundesanwalts weitere Erkenntnisse bringen und das weitere Netzwerk endlich angeklagt wird.
Sehr geehrter Herr Präsident,
werte Kolleginnen und Kollegen,
wir GRÜNEN haben unsere Arbeit im Untersuchungsausschuss stets als tiefe Verpflichtung gegenüber den Opfern des NSU und gegenüber allen Opfern rechtsextremer Gewalt verstanden. Ziel war es aber auch, Politik und Gesellschaft die Augen zu öffnen: unwidersprochener Rassismus, hingenommene Diskriminierung und relativierte Menschenverachtung bereite den Boden für Rechtsextremismus. Und Rechtsextremismus tötet.