Redebeitrag des Abgeordneten Valentin Lippmann (BÜNDNISGRÜNE) zum Antrag der Fraktionen CDU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD: „Kindgerechte Justiz – besondere Schutzbedürftigkeit beachten“ (Drs 7/13914)
76. Sitzung des 7. Sächsischen Landtags, Mittwoch, 20.09.2023, TOP 5
– Es gilt das gesprochene Wort –
Sehr geehrter Herr Präsident, werte Kolleginnen und Kollegen,
wie oft haben Kinder und Jugendliche in verschiedenen Situationen eigentlich Kontakt zur Justiz? Dies ist eine Frage, die man sich eigentlich viel zu selten stellt und die dennoch von erheblicher Bedeutung ist.
Denn der Schutzauftrag gegenüber Kindern gilt auch und gerade im Zuständigkeitsbereich der Justiz, in welchem Kinder nicht selten Akteure oder Betroffene in besonders belastenden Situationen sind.
Sei es, wenn Kinder die Opfer von Straftaten sind, gerade auch in Fällen von Missbrauch oder Misshandlungen.
Sei es als Beteiligte im Familienverfahren, gerade auch als diejenige, über deren Verbleib und Wohl unmittelbar durch Familiengerichte entschieden wird.
Sei es in Fällen Häuslicher Gewalt, in denen Gewaltschutz nicht nur Erwachsenen, sondern auch den im Haushalt lebenden minderjährigen Angehörigen zugutekommen muss.
Sei es auch als Zeuginnen oder Zeugen im Strafverfahren, in dem sie über Taten oder ihre Beobachtungen vor Gericht aussagen müssen.
In all diesen genannten Fällen gilt, dass die Kinder in den seltensten Fällen auf die Situation vorbereitet wurden, in denen sie mit der Justiz in Kontakt kommen. Es sind überdies nur einige Situationen, in denen Kinder und Jugendliche als besonders vulnerable Gruppe und schutzbedürftige Individuen in den Fokus unser aller Aufmerksamkeit gerückt werden müssen!
Werte Kolleginnen und Kollegen,
das Strafprozessrecht und auch das andere einschlägige Verfahrensrecht beinhaltet daher besondere Schutzregelungen, beispielweise für die Vernehmung von Kindern oder zur Sicherung ihrer Rechte.
Aber das reicht nicht aus, denn vielfach geht es beim Schutz von Kindern und Jugendlichen gar nicht um die – meist klar kodifizierten – rechtlichen Rahmenbedingungen beim Kontakt mit dem Justizsystem, sondern um deren praktische Verwirklichung.
Während einige politische Kräfte lieber faktenfrei und ideologiegetrieben darüber diskutieren, die Strafmündigkeit abzusenken, haben wir uns als Koalition daher auf den Weg gemacht die Rechte und den Schutz von Kindern in justiziellen Verfahren zu stärken.
Werte Kolleginnen und Kollegen,
mit dem vorliegenden Antrag wollen wir zunächst den Status Quo beleuchten. So gibt es bereits regelmäßige Fachgespräche zum Qualitätsmanagement bei familiengerichtlichen Gutachten, deren Erkenntnisse auf die Gutachtenpraxis in anderen Rechtsgebieten erweitert werden sollen.
Eine vom BMJV getragene Bund-Länder-Arbeitsgruppe erarbeitet einen Prototyp für die Vermittlung psychologischer Kompetenzen zum Thema „Entwicklungsgerechte, vollständige und suggestionsfreie Kindesanhörung“ für Richter*innen, Staatsanwält*innen, Polizeibeamt*innen.
Mit dem Schwerpunkt auf minderjährige Opfer von Sexualdelikten beschäftigt sich die Arbeitsgruppe „Kindgerechte Justiz“ des Nationalen Rates gegen sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, die ebenfalls einen Forderungskatalog an die Justiz veröffentlicht hat.
Und speziell für Sachsen möchte ich folgende drei Punkte besonders hervorheben:
Sehr gute Erfahrungen haben wir mit dem Childhood-Haus in Leipzig gemacht, das für minderjährige Opfer sexueller Gewalt alle Ermittlungs- und Verfahrensschritte bündelt und so die wiederholte Vernehmung kindlicher und jugendlicher Geschädigter verhindern kann; das Amtsgericht Leipzig schätzt die Anzahl der Vernehmungen im Childhood-Haus auf etwa 100 pro Jahr.
Eine umfassende interdisziplinäre Zusammenarbeit und Austausch der beteiligten Professionen gibt es in Sachsen schon. Wir haben eine Reihe bestehender Angebote für Fortbildungen für Richter:innen und Staatsanwält*innen zu Fragen kindgerechter Justiz.
Werte Kolleginnen und Kollegen,
aber hier dürfen wir nicht stehen bleiben, denn für eine wirklich kindgerechte Justiz ist noch einiges zu tun, auch in Sachsen.
Unsere Forderungen an die Staatsregierungen greifen deshalb Best-Practice-Beispiele auf, die es auch zu institutionalisieren gilt.
Wir streben eine Erweiterung des Ansatzes der Childhood-Häuser in ressortübergreifender Verantwortung an, um weitere Opfergruppen zu berücksichtigen und den interdisziplinären Ansatz beizubehalten.
Wir wollen eine bessere organisatorische und technische Absicherung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen in Gerichtsverfahren erreichen. Dazu wollen wir verstärkt altersgerechte Räumlichkeiten bei den Gerichten schaffen, um den besonders schutzbedürftigen Verfahrensbeteiligten einen Rückzugsort zu gewährleisten – diese gibt es bereits in vielen Gerichtsgebäuden in Form von Anhörungs- oder Familienzimmern.
Es braucht moderne Video- und Vernehmungstechnik sowie deren prozessual verwertbare Wiedergabe, um Kindern und Jugendliche traumatisierende Mehrfachvernehmungen möglichst zu ersparen.
Wir wollen den „Praxisleitfaden zur Anwendung kindgerechter Kriterien“ musterhaft etablieren, um alle Verfahrensbeteiligten im Umgang mit Kindern und Jugendlichen bestmöglich zu schulen. Dazu gehört auch aus unserer Sicht eine Fortbildungspflicht für Richter*innen.
Nicht zuletzt wollen wir leicht verständliche und verfügbare Informationen über Justiz und Rechtstaat für Kinder und Jugendliche etablieren. Dies ist ein kleiner, aber besonders wichtiger Punkt. Wenn Kinder unvoreingenommen und angstfrei der Justiz begegnen sollen, dann ist es mir tausendmal lieber, es gibt geeignete Informationsmaterialien, die Kinder altersgerecht über ihre Rechte und Pflichten informieren, als dass diese ihre Wahrnehmung über Gerichte und Staatsanwaltschaft aus fragwürdigen Nachmittagsunterhaltung bei Sat1 erhalten.
Werte Kolleginnen und Kollegen,
ja, wir reden hier heute über ein eher kleines Thema, aber eben auch über kleine Menschen, deren Rolle und besonderen Schutz in justiziellen Verfahren wir uns nicht nur am Weltkindertag vergegenwärtigen sollten.
Denn nur eine kindgerechte Justiz gewährleistet faire Verfahren, die auf das Alter, Reife und besondere Umstände von Kindern und Jugendlichen Rücksicht nehmen.
Es ist daher wichtig, dass Kinder und Jugendliche in gerichtlichen Verfahren individuell unterstützt und geschützt werden, um ihre Interessen zu wahren, ihnen eine Stimme zu geben. Eine kindgerechte Justiz trägt dazu bei, das Vertrauen von Kindern und Jugendlichen in unser Justizsystem gestärkt und ihre Rechte respektiert werden. Dafür bitte ich um Zustimmung zu diesem Antrag.
Vielen Dank.